Interviews

Fabrice Bousteau: eine neue Zeit der Kreativität

Von Mariam Arcilla | veröffentlicht am 2. Dezember 2021


Wir haben uns mit Fabrice Bousteau, dem französischen Journalisten, Wegbereiter, Kurator und Chefredakteur der Zeitschrift Beaux Arts zusammengesetzt, um in einem gemeinsamen Gespräch mehr darüber zu erfahren, wie seine schier endlose Neugier seine Herangehensweise an das Geschichtenerzählen und an die Kreativität prägt.


Schnittstelle Kreativität

„Im Grunde war ich immer schon Journalist“, sagt Fabrice Bousteau, der seine Leidenschaft als „auf ein professionelles Niveau gehobene Neugier“ beschreibt. Fabrice, der in der kleinen Provinzstadt Chaumont in Haute-Marne östlich von Paris aufgewachsen ist, entwickelte ein Interesse daran, aufgeschnappte Gespräche zwischen Schülern und Lehrern auf dem Schulhof aufzuschreiben: „Ich wollte schriftlich festhalten, was jeder von uns sagte, vor allem über das, was sich in unserem Leben ereignete“, erinnert er sich. Als er auf der Oberschule war, gründete Fabrice – angespornt von dem Wunsch, Geschichten zu Papier zu bringen – eine Schülerzeitung: „Ich recherchierte, schrieb Artikel und fragte meine Freunde nach ihrer Meinung zu aktuellen Ereignissen.“


Heute wird Fabrice als Universalgebildeter mit einer erfolgreichen Karriere als Journalist, Kurator, Buchautor und Kunstredakteur als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der westlichen Kunstwelt verehrt; er wurde für seine herausragenden Leistungen im Jahr 2019 vom französischen Kultusministerium mit einem Orden der Künste und der Literatur ausgezeichnet. Fabrice, der als Chefredakteur der führenden Kunst- und Kulturmagazine Beaux Arts, Quotidien de l’Art und Beauxarts.com bekannt ist, hat derzeit seinen Hauptsitz im Büro von Beaux Arts am Boulevard de la Madeleine in Paris, wo unser Interview stattfindet. Der unvergleichliche Franzose schreibt seinen Karriereerfolg seiner Fähigkeit zu, immer an der „Schnittstelle zwischen Kreativität und Denken“ zu sein und so der Öffentlichkeit neue Ideen und das aufstrebende künstlerische Talent dahinter näherzubringen. Ein lohnender Aspekt sei dabei die „Gelegenheit, junge Künstler zu treffen, die noch nicht bekannt sind“, und ihre Karrieren zu beobachten. 



Fabrice Bousteau, Chefredakteur der Zeitschrift Beaux Arts


Ebenso erfreulich ist das Feedback, das Fabrice von Menschen erhält, die sich mit seinen drei Veröffentlichungen beschäftigen – vor allem, wenn Leser Briefe an die Redaktion schreiben oder ihn auf der Straße ansprechen, um ihm zu sagen, dass seine Artikel ihnen ganz neue Perspektiven eröffnet haben. „Die Leute sagten zu mir: ‚Ich habe es Ihnen zu verdanken, dass ich eine Welt entdeckt habe, die ich mir nie hätte vorstellen können’“, schildert er voller Begeisterung. „Das ist für mich die erfüllendste Erfahrung, denn dabei geht es um Wissen und das teilen von Wissen – also Prinzipien, die die eigentliche Grundlage der Menschheit darstellen.“


Von Fellini bis zur Welt der modernen Kunst

Als Fabrice im Alter von 15 Jahren zum ersten Mal das Centre Pompidou besuchte, verliebte er sich in die Kunst. Er erinnert sich, eine filmische Retrospektive von Federico Fellini und die „erstaunliche Architektur von [Renzo] Piano und [Richard] Rogers“ gesehen zu haben. Seine Ehrfurcht wurde im Museum of Modern Art noch größer, als er [Wassily] Kandinskys bahnbrechendes Werk „Improvisation 14“ aus dem Jahr 1910 sah, das ihn fesselte. Das abstrakte Gemälde „vermittelte das Gefühl, als würden sich die Formen bewegen, als würden sie tanzen“, merkt er an, „in dem Moment wurde mir klar, dass Gedanken, Bewegungen und Freude aus Formen, aus einem Gemälde entstehen können – aus etwas Zweidimensionalem.“ 


Während seiner gesamten Karriere blieb Fabrice seiner Leidenschaft dafür treu, Erkenntnisse, Diskurs und die Verbreitung der daraus erwachsenden Ideen durch das Schreiben und seine Tätigkeit als Kurator zu kombinieren. Fabrice war sieben Jahre lang der leitende Kurator der Kunstmesse „Abu Dhabi Art“ und hat im Laufe der Jahre über unzählige international renommierte Künstler geschrieben, zum Beispiel Xu Bing, Martin Creed, Shilpa Gupta, Angelica Mesiti und das Raqs Media Collective. In einem Interview mit „The National News“ aus dem Jahr 2016 verglich Fabrice die Tätigkeit eines Kurators mit der eines DJs, weil „wir Kunstwerke auswählen müssen, die einen Song und einen Rhythmus für das Publikum entstehen lassen“.


Das 333. Gemälde

Interessanterweise ist es diese rhythmische Betrachtungsweise, die Fabrice dazu veranlasst hat, selbst Kunst zu sammeln. Die Entscheidung, ein Gemälde von Joseph Crépin auf der FIAC International Contemporary Art Fair zu kaufen, wurde für ihn zu einem entscheidenden Moment. Während eines Fernsehinterviews auf der Messe wurde Fabrice gebeten, über die fünf Kunstwerke in der Ausstellung zu sprechen, die ihm am besten gefallen. Also schilderte er Josephs bemerkenswertes Leben als Klempner und dessen kurze, aber produktive Malerkarriere, die spät in seinen 60ern begann. „Als ich die Geschichte erzählte, sagte ich mir: ‚Wie wäre es, wenn ich dieses Gemälde kaufen würde?‘ Also kaufte ich es. Und das war ein Moment, der mir in meinem Leben als Sammler wirklich die Augen geöffnet hat.“ 


Als Fabrice die Geschichte erzählt, erklärt er, dass Joseph einige Monate vor dem Zweiten Weltkrieg Stimmen in seinem Kopf gehört hat, die ihn aufforderten, 300 Gemälde zu malen. Die Stimmen versprachen dem Franzosen, dass „die Welt geheilt sein würde“, sobald diese Mammut-Serie fertiggestellt wäre. „Joseph hat das 300. Gemälde genau am Tag des Waffenstillstands fertiggestellt, den er nicht vorhersehen konnte“, sagt Fabrice voller Erstaunen. „Als eine Bombe ein Gebäude traf, war die einzige Wohnung im Gebäude, die nicht zerstört wurde, die, an deren Wänden ein Gemälde von Joseph Crépin hing.“ Unter der Führung dieser Stimmen malte der spirituell ergriffene Künstler bis zu seinem Tod weiter. Fabrice pausiert kurz, bevor er enthüllt: „Bei mir zu Hause hängt sein 333. Gemälde und ich bewege es nie von der Stelle.“


Beaux Arts

Während die Kunstwelt immer tiefer in die Hyperdigitalisierung eintaucht – mit holografischen Ausstellungen, Metaversen und NFTs in Hülle und Fülle – ist Fabrice natürlich klar, dass er im Hinblick auf neue technologische Trends auf dem Laufenden bleiben muss, um den Erfolg seiner Veröffentlichungen auch in Zukunft sicherzustellen. „Beaux Arts hat sich schon immer der digitalen Welt angepasst, Schritt für Schritt, Stück für Stück, Pixel für Pixel“, sagt er stolz. Paris erhebt beispielsweise den Anspruch, die Stadt mit den weltweit meisten Ausstellungen zu sein – mehr als ihre Pendants New York und London – aber das sorgt auch für Probleme. Die Termine sind in der Kunstwelt so eng gespickt, dass Fabrice betont: „Ich renne ständig von einer Ausstellung zur nächsten … ich schaffe es nicht einmal, 10 Prozent davon zu sehen!“ 



Exemplare der Zeitschrift Beaux Arts


Um geografische Limitierungen entgegenzuwirken, hat Beauxarts.com „gespeicherte Videos von all diesen Ausstellungen in sehr kurzen Formaten eingeführt, damit so viele Menschen wie möglich sie sehen können, sich aber auch in einem Kontext dafür interessieren, bei dem wir mit einem riesigen Informationsfluss konfrontiert sind und uns anpassen müssen.“ Diese Flexibilität ist für Sammler, Kritiker und Kunstliebhaber besonders wichtig, denn „wir müssen einfach überall sein, weil der Informationsfluss beträchtlich zugenommen hat; die Zahl der Ausstellungen und der Künstler ist erheblich gestiegen.“ 


Als bahnbrechende Möglichkeit erkundet Beaux Arts laufend sorgfältig durchdachte und konzipierte Geschichten durch Projekte wie kreative Partnerschaften. Ende 2021 hat sich Beaux Arts mit Catawiki zusammengetan, um die Auktion „Die Goldenen Zwanziger“ ins Leben zu rufen, deren Name sich auf die kulturelle und industrielle Wiederbelebung der westlichen Gesellschaft in den 1920er Jahren nach dem Weltkrieg bezieht. „Angesichts der einzigartigen Charakteristika von Catawiki – mit einer so vielfältigen Palette von Objekten, die auf der Plattform angeboten werden – könnte diese ein roter Faden sein, der die 1920er mit den 2020er Jahren verbindet“, so Fabrice.


Die Goldenen Zwanziger

Die 1920er Jahre waren insbesondere in Frankreich ein lebhaftes, erfrischendes Jahrzehnt, das als „Années Folles“ oder „Verrückte Jahre“ bezeichnet wird, und es hat vielen visionären Trends und Ideen Tür und Tor geöffnet. Das optimistische und zukunftsorientierte Catawiki-Thema „Die Goldenen Zwanziger“ ist also von der Vorstellung inspiriert, dass wir „nach allem, was wir [mit COVID] durchgemacht haben“, so die Prognose von Fabrice, „vielleicht Zeugen einer neuen Zeit der Kreativität werden.“ Während wir uns aus der postpandemischen Atmosphäre herausbewegen, sieht Fabrice eine herannahende Zeit der „grenzenlosen Kreativität, Begeisterung und Freude“, in der die Menschen – wie während des Nachkriegsbooms, der einen enormen Wandel und erhebliches Wachstum einläutete – wieder anfangen werden, daran zu glauben, „dass alles passieren kann, dass alles möglich ist.“ 


Apropos Zeit: Fabrice verrät, dass er durch die Beschäftigung mit dem Thema Auktion neue Wertschätzung für ein besonderes Objekt in seiner persönlichen Sammlung gefunden hat: eine antike Longines-Uhr aus den 1970er Jahren, die er vor einem Jahrzehnt bei einem Antiquitätenhändler gekauft hat. „Die Armbanduhr heißt ‚Mystery‘“, sagt er mit einem Strahlen im Gesicht, „das Zifferblatt ist, wenn man es betrachtet, sehr flach, sehr schön, sehr dünn, und es hat sichtbare kleine blaue Lichtpunkte. Ich habe die Uhr vor etwa zehn Jahren bei einem Antiquitätenhändler gekauft. Und tatsächlich muss man sich etwas Mühe geben, um die Zeit darauf abzulesen! Die Uhrzeiger sind ein bisschen seltsam und man muss sich wirklich geistig darauf einschießen, um die Zeit ablesen zu können.“ Er fügt geistreich hinzu: „Es ist schon paradox: dass man sich Zeit nehmen muss, um herauszufinden, wie spät es ist.“


Der Weg in eine digitale Welt

Fabrice sinniert, dass die zeitgenössische Welt seit mehreren Jahren auf paradoxe Weise „in zwei Welten gleichzeitig lebt – nicht parallel, sondern zeitgleich – in einer digitalen Welt und in der realen Welt“, und führt als Beispiel dafür an „Während ich mit Ihnen spreche, kann ich auch eine SMS lesen oder eine E-Mail senden.“ In einer Zeit, die immer digitaler wird, in der Online-Welten und die reale Welt rasend schnell aufeinanderprallen und sich überschneiden, genießt Fabrice ihre Koexistenz „man kann vom [Kauf] eines Buches oder einer Arbeit auf Papier zu einem virtuellen Kunstwerk wechseln“ und „vom Einkauf im Ladengeschäft zum Einkauf auf einer digitalen Plattform.“ Aus diesem Grund, so Fabrice, „wird der Online-Handel auch nach der Pandemie maßgeblich für die Konsumwelt sein.“


Mit Blick auf die Zukunft ist Fabrice davon überzeugt, dass Technik in der Lage ist, als Betreiber des Wandels für eine bessere Zukunft zu fungieren. Auch wenn die Klimakrise nach wie vor eine dringliche globale Sorge ist, ist es dennoch wichtig, nach einer konkreten Hoffnung zu greifen. Die gute Nachricht, sagt er, ist, dass „sich wissenschaftliche Forschung exponentiell weiterentwickelt und dass Themen wie Energie und das Quantenuniversum heutzutage von so übermäßiger Bedeutung sind, und das bedeutet, dass technisch gesehen alles passieren kann. Es kann passieren, dass wir plötzlich Verbindung zu Außerirdischen aufnehmen, die zufällig auch Kunstsammler und sogar Künstler sind!“ Die kindliche Neugierde, die ihn zu einer kulturellen Ikone gemacht hat, blitzt plötzlich in Fabrices durchdringend blauen Augen auf, die voller Hoffnung strahlen: „Ich schaue wie ein Kind auf diese Welt und ich denke, dass wir die Einstellung eines lächelnden Kindes niemals verlieren sollten – wir sollten immer darauf hoffen, dass alles Mögliche passieren kann, während wir in der Lage sind, und das Schlimmste vorzustellen.“


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